top of page
Suche

Bildung als Schlüssel

  • Autorenbild: cielo
    cielo
  • 23. Feb. 2019
  • 6 Min. Lesezeit

Indien ist ein Entwicklungsland, das sich angeblich auf der Schwelle zum entwickelten Land befindet, ein so genanntes Schwellenland. Doch wenn ich mich hier so umsehe, fällt mir auf, dass der Kontrast zwischen Tradition und der „modernen Welt“ viel zu groß ist - eine schwache Form des Kulturclashs1? - um diese Schwelle zu überwinden.

Und das einzige, was ich dazu sagen kann ist: Indien hat viel Arbeit vor sich!


Indien hat viel Arbeit vor sich.

In vielen Bereichen. Sehr vielen Bereichen. Umwelt, Kultur, Politik, System, (Infra-)Struktur, also ziemlich überall. Die Grundlagen für Veränderungen in all diesen Bereichen liegen in der (richtigen) Bildung.

Indien hat viel Arbeit vor sich, was Bildung angeht.

Erst wenn sich in diesem Bereich etwas ändert, wird sich das Land verändern und entwickeln können. Selber denken steht hier ziemlich weit unten… es wird eigentlich nur auswendig gelernt. Wirklich nur auswendig gelernt, das weiß ich, weil es meine Mädchen im Kinderheim jeden Tag tun. Ich weiß es, weil ich die Lehrer in wenigen Minuten eine Klassenarbeit korrigieren sehe, zack, zack, es gibt nur eine richtige Lösung (wirklich, ich habe nachgefragt. Zeilen lange Absätze werden in wenigen Sekunden abgehakt). Und das ist es, was diesen Teufelskreis zum laufen bringt.

Wird nicht schon in der Schule beigebracht, eigenständig zu denken, Dinge von verschiedenen Seiten zu betrachten und zu analysieren, zu welchem Zeitpunkt des Lebens soll diese Eigenständigkeit dann entwickelt werden? Nach der Schule, geht es hier aufs College, wo es mit Auswendiglernen von Lösungen weiter geht, danach wird in vorgegebene Strukturen eingeheiratet. So läuft das hier einfach und für die meisten Menschen, zumindest die, die ich traf, scheint es in Ordnung zu sein. Vermutlich, weil es schlichtweg nie hinterfragt wird und die Eltern sowieso besser wissen als man selbst, was das richtige für einen ist! Klingt logisch oder?

- Nein. Aber so ist es hier. Vielleicht ist es für diese Menschen leichter, weil man sich keine Gedanken machen muss, man wird nicht unbedingt vor wichtige Entscheidungen gestellt, bis man selbst zu Eltern wird. Andere entscheiden alles. Vielleicht machen es diese Ignoranz, Naivität, Leicht-/ Gutgläubigkeit und das nicht Hinterfragen einfacher, dieses Leben zu leben. Das Leben, das nicht von einem selbst geführt wird, erst recht nicht als Frau, und dies führt vielleicht dazu, dass man nicht oder weniger leidet. Weil man nicht weiß, dass es anders geht. Weil man nicht hinterfragt. Man akzeptiert. Womöglich ist das ein Segen und ein Fluch zugleich.


Ich muss aufpassen, denn ich sehe das alles von einer ganz anderen Perspektive, aus einer anderen Kultur heraus, von der ich denke, dass sie mir die Freiheit schenkt, tun zu können, was ich möchte. Ich möchte nicht alles schlecht reden, aber das alles stimmt.

Ich bekomme Tag für Tag mit, wie diese Eigenständigkeit und das wirklich „freie“, selbstständige Denken einfach nicht zum Alltag gehört (mehrheitlich). Natürlich bin ich hauptsächlich mit Frauen und Mädchen beschäftigt, aber ich weiß, dass arrangierte Ehen von zwei Familien organisiert werden, Männer werden genauso verheiratet wie Frauen. Nur dass es die Männer dank ihrer „Machtposition“ in dieser Gesellschaft das bessere Los gezogen haben.


Kultur und Bildung hängen also zusammen. Zumindest das in der Kultur verharren, diese Alteingesessenheit und Strenge, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint.

Die Auswirkung der Kultur auf die Bildung sehe ich in den Schulen.

Ich sitze jeden Mittwoch in der Grundschule und ringe mit mir selbst. Weil ich es einfach nicht nachvollziehen kann. Ich kann das Verhalten der Lehrer einfach nicht nachvollziehen. Wenn die Kinder (zwischen 4 und 10) abgelenkt sind, sich gerade so verhalten, wie es dem Lehrer (Lehrer: allgemein gesprochen, es sind hauptsächlich Lehrerinnen an dieser Schule) nicht passt oder im schlimmsten Fall einen Fehler machen, dann wird der Stock oder das Lineal raus geholt, an den Ohren gezogen und gedreht, in die Oberarme oder Backen gezwickt oder, die sonst auch gängigste Strafe: das Kind muss Knien. Im nächsten Moment, erklärt der Lehrer diesem Kind das ganze, das Kind korrigiert den Fehler und die Mitschüler müssen klatschen (das ist Widerspruch auf höchstem Niveau). Die Logik dahinter, wo ist sie? Dieses System geht einfach nicht in meinen Kopf. Natürlich, Disziplinierung soll das sein! Nur funktioniert sie nicht. Das alles funktioniert einfach nicht und es ist mehr als offensichtlich (nicht nur für mich als außenstehende).

Ich sehe diese Szenarien regelmäßig, sitze hinten im Klassenzimmer und kann nichts machen. Es kostet unglaublich viel Kraft sich in diesen Momenten selbst zu beherrschen, nicht schreiend nach vorne zu rennen und einzugreifen. Die einzige Möglichkeit, die mir in diesen Situationen bleibt ist, nach dem Grund der Bestrafung zu fragen und zu versuchen es kulturell zu akzeptieren (verstehen klappt nämlich nicht) … oder so ähnlich.

Trotzdem ist es schmerzhaft zu beobachten, dieses Leid in den Kinderaugen zu sehen, die nicht weinen dürfen. Und dann frage ich mich, wie es sein kann, dass dieses Verhalten, von Seiten der Erwachsenen, über Generationen weitergetragen wird. Sie haben das alles schließlich selbst erlebt. Doch ehe ich mich versehe, tun die Kinder das gleiche, wenn sie Verantwortung haben (zum Beispiel als Klassensprecher). Für sie ist das völlig normal. Ich kann es immer noch nicht glauben, wenn ich es hier jetzt erzähle, kommt mir die Welt falsch vor, aber als ich letzte Woche in der Ersten Klasse unterrichtet habe – diese Klasse ist unkontrollierbar. Bringt die ganze „Disziplinierung“ wohl doch nichts – kam ein Mädchen nach vorne und frage mich etwas auf Tamil. Ich dachte sie müsste auf die Toilette, also habe ich sie gehen lassen. Kurz darauf kam sie mit einem „Lehrer-Stock“ zurück. Offensichtlich, um die anderen zurechtzuweisen. Verrückt, nicht? Es ist überflüssig zu erwähnen, dass der Stock nicht zum Einsatz kam auch wenn ich am Rande der Verzweiflung stand, diese Klasse ist wirklich heftig!

Es ist nun mal so, die Kinder toben sich aus, sobald nicht hingesehen wird. Und einerseits scheint man sie wirklich nur so unter Kontrolle zu bekommen. Aber das ist nicht richtig und bringt, wie gesagt, OFFENSICHTLICH nichts!

Schule wie ich sie kenne, ohne Gewaltanwendung, ohne körperliche oder psychische Bestrafungen, die so oder so nicht dazu führen, dass ein Kind aus seinem Fehlverhalten oder seinen Fehlern lernt, ohne permanenten, unterdrückenden Druck, ist effektiver. In absolut jeder Hinsicht effektiver. Wir lernen weniger (zeitlich), aber intensiver, mehr und besser. Wir lernen aus Situationen, wir lernen Konsequenzen zu ziehen. Wir lernen zu denken und nicht auswendig zu lernen. Wir werden gebildet: Zu eigenständigen Menschen, die ihr eigenes Leben, mit ihren eigenen Entscheidungen führen können. Wir entwickeln uns, während wir gebildet werden.

Mir ist sehr klar, dass es auch bei uns noch nicht lange so funktioniert. Unsere Großeltern standen unter den gleichen Voraussetzungen wie es die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Indien noch heute tun.

Indien hat viel Arbeit vor sich, Indien muss lernen umzudenken.

Indien muss lernen, (um)denken zu lassen und Indien muss lernen, (um)denken beizubringen.

Wir entwickeln uns, während wir gebildet werden. Indien muss gebildet werden, um sich entwickeln zu können.


Ich bin nur drei Monate hier, denke oft, dass mir die Zeit nicht reicht, um etwas verändern zu können. Und das stimmt auch. Ich allein kann diese Welt nicht verändern. Ich kann aber (versuchen) einen Anstoß zum Umdenken zu geben. Dabei muss ich am aktuellen Stand anknüpfen, ihn akzeptieren und Schritt für Schritt vorgehen.

Und manchmal ist es einfacher ein „klick“ im Kopf eines anderen Menschen auszulösen, als ich dachte. Manchmal reicht es schon von meiner, der hier fremden Kultur, zu erzählen. Perspektiven zu erwähnen, meine Ansichten zu Teilen. Den anderen zu zeigen, dass wir uns auf der gleichen Ebene befinden (wir sind alle nur Menschen), dass ich mich nicht angegriffen fühle, wenn sie etwas an meiner Kultur kritisieren. Ihnen zu zeigen, dass es in Ordnung ist, anders zu denken, anders zu sein.

Man muss sich langsam ran tasten, aber Stück für Stück öffnen sie sich, fragen immer mehr, merken, dass wir uns in einem vertraulichen Kreis befinden. Und tatsächlich wird immer mehr hinterfragt und selbständig gedacht, mich ausgefragt über meine Ansichten. Dann weiß ich, dass der Stein ins Rollen gebracht wurde und vielleicht rollt dieser ein bisschen mehr in Richtung Freiheit.

Das Umdenken wird viel Kraft und womöglich auch Leid kosten. Aber welche Revolution, welche Revolte hat ohne irgendeine Form von Leid und Kampf stattgefunden? Es heißt nicht umsonst, dass es einen Funken Hoffnung gibt. Und dass ein Funken ein Feuer entfachen kann, weiß jeder.





1Definition: „das Aufeinanderprallen bestimmter kultureller Besonderheiten, Einstellungen o.Ä. und dadurch bedingte Missverständnisse oder Konflikte“ (Q.: https://www.duden.de/rechtschreibung/Kulturclash ; 22.02.19)

2 comentários


Adriana Candiago
Adriana Candiago
23 de fev. de 2019

Hola mi amorcito! cuando la vida nos pone ante situaciones que no podemos cambiar, la madurez, la reflexión, la paciencia, la audacia y sobre todo el amor al prógimo, son las virtudes y los valores que podemmos poner en juego!

te amo siempre!

Mami 💞

Curtir

Natalia Sunnoo
Natalia Sunnoo
23 de fev. de 2019

Liebe Cielo, ich kann dir sehr gut nachfühlen. Meine Bewunderung, dass du die Ruhe bewahst und versuchst, in ganz kleinen Schritten und auf "sanfte" Weise deinen Beitrag zum Umdenken zu leisten. Du kannst stolz auf dich sein.

Curtir
IMG_3292.JPG
About Me

My name is Cielo. I am volunteering for three months in India and travelling through South America.

 

© 2019 by Cielo H. created with Wix.com

bottom of page