GEBEN & was kommt dann?
- cielo
- 5. Apr. 2019
- 4 Min. Lesezeit
Das war‘s dann wohl.
Das waren sie, die drei Monate. Drei Monate, von denen ich nicht wusste, wie sie werden würden. Drei Monate weg von zu Hause, weg von Familie und Freunden, weg von allem Bekannten in einem Land mit einer Kultur, die ich nicht kannte. Drei Monate fern von all dem, was mich bisher ausmachte und vor allem waren es drei Monate fern von meiner Vorstellungskraft. Aber auch drei Monate, in denen ich mich weiterentwickelt habe, meinen Horizont erweitern, mehr über mich selbst und auch über andere lernen konnte. Ich lasse einen Teil von mir hier und nehme so viel mehr mit, von dem ich weiß, dass ich es für immer in mir tragen werde.
Niemals dachte ich, dass ich so viel lernen würde. Sicherlich habe ich damit gerechnet, dass mich diese Zeit in gewisser Weise verändern würde und natürlich hoffte ich, dass ich einiges lernen könnte. Ich kann nur versuchen so viel wie möglich von dem aufzuzählen, was mich diese Zeit und diese Menschen hier gelehrt haben, denn meine Erfahrungen – positive sowie weniger positive - sind schwer in Worte zu fassen, es steckt so viel mehr dahinter.
Um mit den einfachen Dingen zu beginnen: ich habe eine neue Sprache gelernt, zwar kann ich keineswegs fließend Tamil sprechen, finde aber, dass ich mich nach drei Monaten recht gut geschlagen habe, wenn man bedenkt, dass ich nur aus dem Alltag heraus lernte. Ich habe gelernt einige indische Gerichte zu kochen. Weniger appetitlich, aber dennoch nützlich: ich bin jetzt sehr geübt im Entlausen… Ich kann einen Saree wickeln, mit rapunzellangen Haaren Zöpfe flechten, kann Wäsche mit den Händen waschen, Kakerlaken mit Besen erschlagen, stundenlangen Lärm ertragen.
Ich habe gelernt hinzusehen, anstatt - an was auch immer – vorbeizugehen. Zum Beispiel am Dreck, hier in Indien ist die Lage tragisch, aber es täte nichts zum Zweck, wenn man wegsieht. Deshalb versuchte ich zu verändern, sagte zu mir selbst „mach was, wenn du schon mal da bist!“. Ich versuchte den Mädchen zu erklären was mit dem Müll passiert, der aus dem Busfenster fliegt und dann Jahrtausende in der Natur rumliegt. Nein, es bringt auch nichts diesen zu verbrennen, denn anstatt „nur“ den Boden zu verseuchen, geht der giftige Rauch in die Luft und … was dann passiert brauche ich hier nicht zu erwähnen aber… im Endeffekt schaden wir uns immer selbst, denn diese Welt ist ein Kreislauf und am Ende der Nahrungskette landet alles wieder in unseren gierigen Bäuchen.
Ich habe gelernt, was es heißt in einer komplett anderen Kultur zu leben, was es bedeutet sich Mühe zu geben, sich so gut wie möglich anzupassen ohne dabei die eigene Kultur aus den Augen zu lassen. Und auch habe ich gelernt diese nicht ständig zu vergleichen, denn tut man das, wird man ein Ziel nie erreichen: alles so wahrzunehmen, wie es hier ist. Loszulassen, wirklich mit zu leben, nach neuen Erfahrungen streben. Schlichtweg gesagt: diese Kultur zu erleben nur dass man sie im Nachhinein nicht vergisst, denn irgendwie wird man dann doch geprägt und es macht dich jetzt mehr zu dem, was du bist.
Wenn ich mit etwas nicht einverstanden war, nicht verstehen konnte, den Sinn dahinter nicht sah, da lernte ich, meinen Mund auf zu machen und nach Erklärungen zu fragen, meinen Standpunkt zu äußern und vielleicht somit zur Veränderung beizutragen. Und oh, wie oft redete ich mich um Kopf und Kragen, da viele Menschen in meiner Umgebung kaum Englisch sprachen. Dann fing ich an meine wenigen tamilischen Wörter mit den englischen zu kombinieren, ich fing wohl an eine neue Sprache zu kreieren. Dennoch war es dann so, wie wir uns verstanden und es war so, wie äußerst interessante Gespräche und Freundschaften entstanden.
Ich lernte zu lehren und was es bedeutet, vielleicht nie wieder an einen Ort zurück zu kehren. Ein Ort mit dem man so viel verbindet, an dem man schwere Zeiten erlebt und Grenzen überwindet. Grenzen, die wir uns selbst gesetzt haben oder Grenzen, die sich einfach ergaben, aufgrund der extremen Unterschiede, die man hier vorfindet, aufgrund einer anderen Realität, die diese Menschen mit ihrer Kultur verbindet.
Ich habe gelernt mir Zeit zu nehmen und mich zu verabschieden von dem Denken, wenn wir meinen wir könnten die Zeit lenken aber im Endeffekt dann doch unser Leben an sie verschenken, im Versuch diese auszutricksen. Denn es kommt nicht darauf an, wie lange man sich kennt und erst recht nicht was man sich gegenseitig schenkt. Es kommt nicht darauf an wie viel Zeit wir uns gegenseitig geben, sondern es kommt darauf an, welche Zeit wir uns selbst für jemanden nehmen. Und trotzdem wird die Zeit nie Freundschaft und Liebe definieren können, denn ich kam vor drei Monaten als Einzelkind hier her und selten viel mir etwas so schwer, wie mich jetzt von meinen 57 Schwestern zu verabschieden. Für mich heißt in diesem Falle Liebe zu empfinden, an jemanden zu denken und etwas besonderes zu verbinden. Eine Erinnerung, die ein Gefühl auslöst, das wir sonst eher selten empfinden. Und diese Liebe mag für jeden anders sein und nein, es gibt nicht nur eine Art von Liebe aber wer wäre ich, um diese zu definieren.
Alles, was ich soeben nannte und noch so vieles mehr, für euch unbekannte, lehrte mich wertzuschätzen, die richtigen Menschen ins Rampenlicht zu setzten und mich selbst dabei niemals zu vergessen. Ich lernte, welch Privileg es ist in einem Land, einer Kultur zu leben, welche mir alle Freiheit lässt, selbst nach meinem Glück zu streben und es meine eigene Entscheidung ist was ich tue und wo und wann. Erst jetzt weiß ich, wie glücklich ich mich wirklich schätzen kann.
Es heißt das Leben ist ein Geben und Nehmen, ich kam um zu geben und habe so viel mehr zurückbekommen. Ich durfte erleben und dadurch hat sich für mich so viel neues ergeben, so viele Möglichkeiten, die ich vorher nicht sah und so einige Werte, auf die ich hier zu ersten Mal traf. Und jetzt sind sie da in meinem Leben aber ich möchte sie nie wieder zurückgeben, ich will sie hinaustragen in diese Welt und ihr zeigen, dass es uns nicht weiter bringt, wenn wir immer nur in unserer Komfortzone bleiben. Unsere Welt ist groß und wir müssen uns ihr öffnen, uns gegenseitig zuhören und es weitertragen, denn ganz am Ende ist sie das wichtigste, das wir alle gemeinsam haben.
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