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"Bist du gut angekommen?"

  • Autorenbild: cielo
    cielo
  • 1. Feb. 2019
  • 4 Min. Lesezeit

Zwei weiße, junge Frauen mit dem Nachtzug von Madurai nach Kanyakumari. Das lässt die Einheimischen in unserem Bekanntenkreis, nicht in Ruhe.

Wie sich ihre Reaktionen auf unsere Reise ausgewirkt haben, könnt ihr euch denken. Vom furchtlosen und abenteuerlichen Gefühl blieb nach einigen besorgten, skeptischen Blicken und Reaktionen nicht mehr ganz so viel übrig. Trotzdem ließen wir uns nicht aufhalten und schnallten die Rucksäcke auf den Rücken, wir waren und sind schließlich nicht die Ersten, die so eine Reise in Indien antreten. Zudem es sich bei uns ja nur um einen einwöchigen Urlaub handelte.

Als wir dann um 00:30 vor dem Bahnhof in Madurai standen, war die Anspannung dann doch eher groß. Doch als wir im Bahnhof drin waren und sahen, dass ziemlich viel los war an den Gleisen, auch Familien auf den Zug warteten und überall Wachmänner standen, wurden wir ruhiger. Das einzige Problem war die eher nicht bestehende Ausschilderung, die dafür sorgte, dass wir beinahe mit dem falschen Zug gefahren wären. Wir waren tatsächlich schon im Zug auf unseren Plätzen, bis ein Mann mit dem gleichen Platz kam. Nach kurzer Zeit der Verwirrung und mithilfe des netten Herren, stellten wir fest, dass die Zugnummer nicht übereinstimmte.

Während ich, mit beiden Rucksäcken bepackt, schon auf dem Weg nach draußen war, fing Chiara in ihrer Verwirrung an, die Situation zu Analysieren und war fest davon überzeugt, sich im richtigen Zug zu befinden. Als ich mich an der Zug Tür wiederfand und Chiara mitten im Zug stehen sah, stürmte ich zurück, packte sie am Arm und sagte, dass wir hier raus müssen „CHIARA, DAS IST DER FALSCHE ZUG!“. Völlig perplex sah sie mich an und folgte mir. Zum Glück war jeder, der Englisch verstand, bereit, unsere Fragen zu beantworten und so warteten wir einige Minuten, bis der richtige Zug kam. Die eng an- und übereinander gereihten „Betten“ des Nachtzugs (indische 1. Klasse = deutsche 6.? Klasse), sorgten bei uns für noch mehr unangenehmes Gefühl, sodass wir uns anstatt jede in eins, zusammen in ein ca. 70cm breites Regal, eng umschlungen mit unseren Wertsachen, legten und - besser als gedacht - schliefen. Anders als überall sonst auf der Welt, zumindest die Teile, die ich kenne, werden die Haltestellen hier im Zug nicht durchgesagt. Und so fragten wir, eine Stunde vor der geplanten Ankunft, Haltestelle für Haltestelle unser Umfeld ab. Selbst als wir uns dann am Bahnhof vor dem Schild mit der Aufschrift „Kanyakumari“ befanden, waren wir uns noch nicht sicher. Die Skepsis überwiegt wohl im Unbekannten.

Endlich Angekommen erkundeten wir, nach einer ausgiebigen Runde Schlaf, die Gegend.


----------------------------- K U L T U R S C H O C K -----------------------------


DEFINITION: „(beim unmittelbaren Kontakt mit einer fremden Kultur) schreckhaftes Erleben der Andersartigkeit der durch die fremde Kultur erlebbaren Realität.“ 1


So viele Menschen, so viel Müll, so beengt, so laut, so anders, zu extrem, zu viel, zu fremd.


Die Frage „was mache ich hier?“, das Bedürfnis sofort nach Hause zu gehen stiegen mir zu Kopf. Ich fand mich plötzlich in einem Zustand wieder, den ich noch nie zuvor verspürt hatte. Dieser ist schwierig zu Beschreiben. Der Kopf brummt, alles scheint sich zu drehen, das Herz wird schwer, ein rauschendes Gefühl, dass zu erdrücken scheint. Erdrückend von allen Seiten. Es fällt unglaublich schwer sich zusammenzureißen. Ich befand mich mit Chiara auf einem Stein-Steg und wir wollten eigentlich bis zum Ende laufen. Doch es fiel mir unglaublich schwer und alles, was ich wollte, war ins Hotel zu gehen(wenn ich schon nicht nach hause konnte). Mich zu verstecken vor all dem, was mich in dieser Welt noch erwarten könnte. Irgendwie fühlt man sich nackt, allein, so verletzlich: FREMD.

Ich fand mich in einer endlos scheinenden Gedankenschleife wieder, die mich Stück für Stück zu Erkenntnissen oder Denkanstößen brachte, welche mich in diesem Moment vielleicht zu überwältigen drohten, jedoch im Nachhinein zu mehr Verständnis für diese Kultur und ihre Lebensweise führten und es immer noch tun (nach knapp über drei Wochen). Man lernt täglich dazu im Leben. Ich denke im Alltag passiert das ganz unbewusst und in solch extremen Situationen ganz bewusst. Weil es das Erlebte ist, was uns prägt, zu dem macht was wir sind und zu dem macht was wir werden. So funktioniert das Leben.

Und so lernte ich auch, was hier ankommen wirklich bedeutet. Ich spreche von mir, nicht im allgemeinen! Jeder erfährt und verspürt das Leben anders. Niemand wird sich jemals zu 100% in jemand anderen hineinversetzen können, wir können uns nur dem annähern, was ein anderer erlebt (hat), indem wir unsere Erfahrungen austauschen und darüber sprechen.

Ankommen (in einer anderen Kultur): erst einmal das Bewusstsein, vor Ort/ im Jetzt zu sein. Die Umstände, die Kultur, den Lebensraum, die Lebensweise, in denen man sich befindet, zu sehen, kennen und einschätzen zu lernen und – am wichtigsten - diese zu verarbeiten.

Endgültig ankommen würde für mich bedeuten, dass all das, was dieses Land und seine Kultur ausmacht, zum Alltag, zur Normalität wird. Und dass man somit Teil des Ganzen wird.

Allerdings befinde ich mich unter anderen Umständen, da ich insgesamt „nur“ drei Monate hier in Indien bin. Deswegen denke ich nicht, dass ich hier endgültig ankommen werde. Aber ich kann mich daran gewöhnen und, so gut es geht, versuchen mich darauf einzulassen, daraus zu lernen und sicherlich auch etwas davon (meiner Version) mitzunehmen.

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Während der Woche in Kanyakumari war mir (aufgrund des Kultur-Schocks) vieles zu viel und ich kann mich glücklich schätzen, dass Chiara demgegenüber so verständnisvoll war, meine Situation akzeptiert und respektiert hat. Wir haben viel geschlafen, geredet und sind meist Nachmittags und Abends raus, um die Gegend zu erkunden. Wir haben uns drei wunderschöne Tempel und den Sonnenuntergang (mein Highlight) angesehen und täglich die Einkaufs- /Marktstraße abgeklappert… und eventuell zu viel gegessen.

Auch wenn wir manchmal das Gefühl hatten, die Sehenswürdigkeit zu sein, da wir von allen Seiten betrachtet und „unauffällig“ Fotografiert oder nach Selfies gefragt wurden konnten wir die zeit genießen.

Letztendlich lernten wir uns während dieser Woche kennen und sind zusammengewachsen (persönlich kannten wir uns erst zwei Tage).

Kanyakumari hat mich das Pilz Home wertschätzen gelehrt und jetzt fühlt es sich mehr nach einem zu Hause an. Ich war ja erst zwei Tage hier gewesen, bevor ich abgereist bin. Trotzdem ist dies jetzt mein geschützter, friedlicher und idyllischer Ort, den mir meine 57 Mädchen nur noch herzlicher scheinen lassen.

Indien - jetzt ich bin da.








1https://www.duden.de/rechtschreibung/Kulturschock (01.02.19)

1 Comment


zizou gaucho
zizou gaucho
Feb 12, 2019

Wow cielo. Toller Bericht. Du hast so einen tollen Schreibstil. Es ist wie als würde ich einen Roman lesen.

Grüße aus Kölle

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About Me

My name is Cielo. I am volunteering for three months in India and travelling through South America.

 

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